Interview mit Prof. Dr. Mario Ragwitz, Institutsleiter der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie (IEG). Foto © www.stefan-effner.de 

„Ganz Europa kann von unseren Konzepten lernen“

Mit dem Start der Strukturstärkung wurde der Lausitzer Forschungsturbo gezündet. Sowohl im Umfeld der BTU Cottbus-Senftenberg als auch an den sächsischen Hochschulstandorten in Görlitz und Zittau geben sich Neugründungen von Instituten und Forschergruppen förmlich die Klinke in die Hand – darunter Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft, des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt sowie Bundesinstitutionen mit innovativem Forschungsschwerpunkt. Für eine neue Exzellenz der Energieregion Lausitz soll vor allem die Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie (IEG) sorgen. Sie zählt zu den wenigen Einrichtungen, die in der Lausitz mit Standorten in Cottbus und Zittau länderübergreifend agieren werden. Die Institutsleitung übernahm mit dem renommierten Wissenschaftler Prof. Mario Ragwitz nicht nur ein international ausgewiesener Experte in Zukunftsfragen wie der Wasserstofftechnologie, sondern sogar ein waschechter Lausitzer. Der promovierte Physiker koordiniert zudem als Sprecher des Fraunhofer-Wasserstoff-Netzwerks die Arbeit von 29 Instituten in diesem Themenfeld. Er arbeitete als Forscher am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme und als Gastforscher an der University of Texas in Austin und am Lawrence Berkeley National Laboratory. Neben der deutschen Bundesregierung berät er die Europäische Kommission, den Deutschen Bundestag, das EU-Parlament, die Weltbank, Regierungen anderer Staaten und Unternehmen. Ein immenses Erfahrungswissen, das nun seiner alten Heimat beim Wandel helfen wird. Wir sprachen mit Mario Ragwitz über seine Sicht auf die Lausitzer Hochschul- und Wissenschaftslandschaft, ihre Rolle als europaweit viel beachtete Modellregion und vielversprechende Perspektiven für Studierende und den Forschernachwuchs.

Wenn Sie sich heute noch einmal für einen Studienort entscheiden könnten, würde wieder Düsseldorf gewinnen oder hätte auch die Lausitz gute Chancen?

Aus Sicht des Studienangebots und der Möglichkeiten hätte die Lausitz bei mir sehr gute Chancen. Als Student genießt man in der Lausitz hervorragende Bedingungen, ein gutes Betreuungsverhältnis zwischen Professoren und Studierenden und fachlich sehr hochwertige Vorlesungen. Allerdings gilt im akademischen Bereich natürlich auch: Junge Menschen sollten ruhig auch einmal den Blick über den Tellerrand und den Schritt in die Fremde wagen.

Ihr Institut hat mit Cottbus und Zittau Standorte in beiden Lausitzen, was beeindruckt Sie am jeweiligen Standort am meisten?

Beide Standorte beeindrucken mich durch ihre Aufbruchstimmung. Es wird angepackt, um den Strukturwandel zu gestalten. Das Kollegium ist fachlich enorm fundiert und gleichzeitig bodenständig. In meiner Geburtsstadt Cottbus sehe ich, welche Dynamik sich nun nach dem Startschuss zum Strukturwandel entfaltet. An beiden Standorten beeindrucken mich das starke inhaltliche Fundament an der BTU Cottbus-Senftenberg und der Hochschule Zittau/Görlitz in Energietechnologien. Die vielfältigen Themen, die wir für den Erfolg der Energiewende bearbeiten müssen – also die gesamte Transformation der Wärmeverbundsysteme und der Sektorenkopplung von Strom bis Wasserstoff – ist in der Lausitz gut abgedeckt.

Insgesamt fließen in den kommenden Jahren rund 45 Mio. Euro in den Aufbau Ihres Instituts, das auch Standorte im Ruhrgebiet und Rheinland umfasst – wie stark wird Ihr Engagement finanziell und personell in der Lausitz verankert?

Diese 45 Millionen fließen komplett in die beiden Lausitzer Standorte! Etwa dieselbe Summe steht noch einmal für unsere Standorte in Nordrhein-Westfalen zur Verfügung. Personell ist das jetzt mit einem starken Wachstum verbunden. Cottbus soll innerhalb der ersten fünf Jahre auf etwa 65 Mitarbeiter*innen aufgebaut werden, in Zittau planen wir mit etwa 10 bis 15 Mitarbeitenden. Insgesamt werden wir in der gesamten Lausitz Mitte der 2020er-Jahre also etwa 80 Mitarbeiter*innen haben.

Welche Chancen verbinden sich damit für Lausitzer Studierende in der Lehre und Hochschulabsolventen in Jobperspektiven?

Die zentralen Themen der Energiewende – Sektorenkopplung, Wasserstoff, integrierte Energienetze und Geothermie – bilden aktuelle Handlungsfelder für zahlreiche Unternehmen ab. Absolventen mit entsprechenden Erfahrungen stechen bei potenziellen Arbeitgebern hervor. Konkret können Studierende als wissenschaftliche Mitarbeiter oder Hilfskräfte am Fraunhofer IEG mitwirken oder ihre Bachelor- und Masterarbeiten bei uns schreiben. Auch Promotionen können bei uns am Institut durchgeführt werden, dies in enger Kooperation mit den diversen Lehrstühlen der BTU. Auch in Zittau werden wir kontinuierlich interessierte und fachkundige Bacheloranden und Masteranden suchen. Wir sind aktuell dabei, unsere Kooperationen auf Basis gemeinsamer Berufungen auszubauen, um unsere wissenschaftliche Expertise und Praxisrelevanz in diversen Studiengängen auch in die Lehre einzubringen.

Sie leiten nur eine von derzeit vielen Wissenschaftsansiedlungen an den relativ kleinen Lausitzer Hochschulen – wie gut ist dieses abrupte Wachstum unter allen Beteiligten abgestimmt?

In dieser extrem dynamischen Entwicklung gibt es natürlich immer wieder Prozesse, von denen man selbst positiv überrascht wird. Wir suchen in Gesprächen nach Synergien mit allen Playern. Bisher hat das sehr gut funktioniert. So sind das DLR-Institut für CO2-arme Industrieprozesse und das Kompetenzzentrum Klimaschutz in energieintensiven Industrien (KEI) besonders relevant für unsere Arbeit. Wir denken bereits über engere Kooperationen nach und veranstalten gemeinsame Konferenzen, stimmen Forschungsthemen ab und versuchen so, Synergien und Hebel in der Zusammenarbeit zu ermöglichen. Ein einfaches Praxisbeispiel: Wir entwickeln Technologien für große Wärmepumpen in unterschiedlichen Temperaturbereichen, zu denen das KEI dann Unternehmen beraten und den Technologietransfer in die Wirtschaft beschleunigen kann.

Wie sichern Sie ab, dass Ihr Institut auch eine langfristige Perspektive hat?

Der Schlüssel hierfür sind tragende Forschungsthemen, für die man eine langfristige Nachfrage am Markt generieren kann. Wir haben uns in einem intensiven Portfolioprozess auf Technologien, Konzepte und Modelle ausgerichtet, für die wir bei der Energiesystemtransformation einen langfristig hohen Bedarf prognostizieren, etwa Sektorenkopplung, die Transformation der Wärmeversorgung oder die Wasserstoffwirtschaft. Die Relevanz dieser Themen wird fortlaufend evaluiert. Darüber hinaus dürfen wir die Vorlaufforschung nicht vergessen – also die Forschungsthemen von übermorgen, die erst in einem oder mehreren Jahrzehnten einen Markt haben. Insgesamt forschen wir an einem Themenspektrum, das von den Belangen lokaler Stadtwerke von nebenan bis hin zu internationalen Energiepartnerschaften reicht. Diese breite Diversifikation schafft Stabilität für die langfristige Entwicklung unseres Instituts.

Trotz des Booms der Wissenschaftsinstitutionen hat es die Lausitz nach wie vor schwer, Studierende für sich zu begeistern – womit werben Sie um Mitarbeiter und wissenschaftlichen Nachwuchs?

Ich glaube, diesen Prozess müssen alle wissenschaftlichen Neuansiedlungen gemeinsam gestalten. Wir müssen neue Köpfe für die Chance zur Mitgestaltung eines einzigartigen Wandels begeistern. Mit unserem Institut sind wir als Mitglied der Fraunhofer-Familie Teil der größten Forschungsgesellschaft Europas. Gleichzeitig leben wir als neues, kleines Institut eine gewisse Start-up-Atmosphäre. Diese Kombination aus hochprofessioneller Forschungsgesellschaft und innovativem Gestaltungsgeist eines Start-ups ist absolut einzigartig. Unter unseren Mitarbeitern sind viele Rückkehrer, da bin ich keine Ausnahme. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben in westdeutschen Bundesländern bei großen Übertragungsnetzbetreibern oder auch in Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen gearbeitet. Sie haben erkannt, dass die Lausitz die große Chance bietet, einen strukturellen Wandel maßgeblich mitzugestalten. Die Forschung dreht sich zudem um Themen, die in den kommenden Jahrzehnten globale Relevanz haben, wenn wir Klimaneutralität erreichen wollen.

Glauben Sie, dass Studienabschlüsse und wissenschaftliche Tätigkeiten an den Lausitzer Hochschulen künftig bundesweit mehr Ansehen und Wert erhalten?

Ansehen entsteht durch Exzellenz in Forschungsthemen. Unser Aufbruch ist mit zukunftsweisenden Themen verbunden, die eine internationale Sichtbarkeit und Strahlkraft erlangen können. Die Lausitz hat das Zeug zu einer Modellregion, in der ein beispielhafter Wandel vom Kohleausstieg hin zu hoher Lebensqualität bei gleichzeitiger Klimaneutralität gelingen kann. Diese Veränderungen betreffen viele Länder Europas – die dann von unseren neu erdachten Konzepten lernen können.

Sie sind seit gut einem Jahr Sprecher des Fraunhofer-Wasserstoff-Netzwerks, um diesen Energieträger gibt es bundesweit ein Wettrennen – kann die Lausitz hier am Ende die Nase vorn haben?

Wir Lausitzer sollten auf jeden Fall versuchen, eine zentrale Rolle zu spielen. Gleichzeitig müssen wir die Realität in Bezug auf die Wasserstoffnachfrage anerkennen. Diese ist in Nordrhein-Westfalen mit einer Vielzahl an Unternehmen der Grundstoff-, Stahl- und Chemieindustrie sowie im Schwerlastverkehr deutlich ausgeprägter. Deshalb sollten wir die Lausitz nicht isoliert denken. Unser Gesamtkonzept sollte zumindest auf Ostdeutschland ausgerichtet sein. Mit einer Klammer beispielsweise um das riesige Angebot erneuerbarer Energien Mecklenburg-Vorpommerns, den Bau von Elektrolyseuren in Sachsen bis hin zu den Power-to-X-Nachfragen der Flughäfen in Berlin, Leipzig und Halle können sich da unterschiedliche Kompetenzen sehr gut ergänzen. Die Lausitz kann mit ihrer hervorragenden Wissenschaftslandschaft, dem Ziel des Netzbetreibers 50Hertz zu 100 % erneuerbarer Stromversorgung bis 2032 und neuen Konzepte in der bestehenden Kraftwerksinfrastruktur eine Schlüsselrolle einnehmen.

Mit Wissenschaftsansiedlungen wie Ihrem Institut verbindet sich die große Hoffnung auf Transfer von Wissen und Technologien in die Lausitzer Wirtschaft. Gibt es hier schon konkrete Vorhaben oder eine besondere Methodik, wie man gerade den vielen kleinteiligen Lausitzer Unternehmen einen Transfer ermöglicht?

Im Grunde haben wir schon jetzt Kooperationen in allen denkbaren Größenordnungen. Mit kleineren Unternehmen arbeiten wir häufig in öffentlich geförderten Forschungsvorhaben zusammen. Aktuell planen wir ein Projekt, in dem wir mit einem Cottbuser Unternehmen eine digitale Infrastruktur zur Steuerung kommunaler Energiesysteme entwickeln. Aber auch mit größeren Unternehmen gehen wir Transfervorhaben an, die sich etwa der Gestaltung künftiger Erdgasnetze oder regionalen Lösungen zur Verstärkung des Stromnetzes widmen.

Wenn BTU-Präsidentin Prof. Dr. Gesine Grande Sie um ein Statement bitten würde, warum die Lausitz für junge Menschen der spannendste Platz Deutschlands ist, was würden Sie sagen?

Weil junge Menschen genau hier die Energiesysteme und die modernen Wirtschaftssysteme von morgen mitgestalten können. Wir haben die Herausforderung, etwas Existierendes durch ein neues, ganzheitliches System zu ersetzen. Sie können also an zentralen Zukunftsfragen rund um die Energie- und Klimawende arbeiten, das ist praxisrelevant und fachlich wie inhaltlich ein extrem spannender Prozess. Zudem stimmt das Gesamtpaket: Die Lausitz bietet hervorragende Studienangebote, angenehme Lebensbedingungen und eine sich sehr stark entwickelnde Kultur, die Studierenden zusätzliche Freiräume zur Entfaltung öffnet.

Wir danken für das Gespräch!

3 Pilotprojekte, die sich Prof. Dr. Mario Ragwitz für die Lausitz wünscht

Nummer Eins wäre die Schaffung einer klimaneutralen Modellregion. Die Stadt Cottbus plant bereits heute, ein klimaneutrales Quartier für 40.000 Einwohner auszugestalten. Mich reizt die Komplexität des Gesamtsystems im Übergang, wenn gleichzeitig Strom-, Gas- und Wärmenetze transformiert werden und diese Sektoren in Zukunft gekoppelt sind.

Nummer Zwei wäre ein Pilotprojekt einer klimaneutralen Grundstoffindustrie gemeinsam mit Systemdienstleistungsangeboten im Energiebereich. Ein Beispiel für so etwas könnte die Transformation der Stahlindustrie in Eisenhüttenstadt sein, zusammen mit einem CO2-freien, Wasserstoff-basierten Ausgleichskraftwerk.

Mein drittes Projekt wäre ein Großrechenzentrum in der Lausitz. Solche Zentren werden unter anderem für rechenintensive Anwendungen wie autonomes Fahren und die Ausgestaltung unserer zukünftigen Energiesysteme sehr wichtig sein, ebenso wie für verschiedene wissenschaftliche und technologische Anwendungen wie die Modellierung komplexer Systeme. Sie bringen viele positive Begleitaspekte mit: Die Abwärme kann genutzt werden, um Wärmesysteme zu dekarbonisieren. Das Zentrum selbst könnte interessante und qualifizierte Jobs für die Region schaffen und die Umgestaltung der Energiesysteme durch neue, intelligente Algorithmen voranbringen.

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